Mittwoch, 23. Januar 2008

Spiegelbilder, Teil 4

Am nächsten Morgen um zehn Uhr saß Georg Wachtler vor dem Schreibtisch Hauptkommissar Böses.
„Herr Wachtler“, begann dieser, „ich würde sagen, daß Sie im Lügen nicht besonders gut sind. Gestern Mittag haben Sie ein zweites Mal nicht die ganze Wahrheit gesagt.“ Böse beobachtete Wachtler wie ein Wolf, der darauf wartet, daß die Beute auch nur eine falsche Bewegung macht.„Zuerst haben Sie gelogen, indem Sie uns versicherten, Sie seien nie bei Frau Knörr gewesen. Sie bestätigten dies auch für den Abend des Mordes. Dann haben Sie das widerrufen, Sie wären doch da gewesen, um ein Buch abzuholen. Sie haben sogar etwas Wein getrunken. Aber angeblich wollen Sie nur kurz geblieben sein. Eine, nach Ihren Worten, sogenannte Zigarettenlänge. Habe ich das bis hierher alles richtig wiedergegeben?“
Wachtler holte seine Zigaretten aus der Jackentasche und fragte: „Darf ich?“
Böse nickte kurz.
„Ja, das stimmt“, beantwortete Wachtler die Frage, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte.
„Gut“, konstatierte Böse. „Dann sagen Sie uns doch bitte“, der Hauptkommissar sah dabei Hettenbach an, der sich ebenfalls im Raum befand und mitschrieb, „warum sich das Buch, daß Sie Frau Knörr geliehen hatten, und angeblich an dem betreffenden Abend wieder abgeholt haben wollen, immer noch auf dem Schreibtisch der Toten befand, als ich gestern Abend dort war. Wir haben es ganz leicht feststellen können, daß dieses Buch von Ihnen ausgeliehen wurde.“ Der Hauptkommissar legte ein Buch vor Wachtler hin und tippte mit dem Finger darauf.
Georg Wachtler wurde leichenblaß. „Ich habe es vergessen“, stotterte er.
„Was haben Sie vergessen!“ fragte Böse barsch.
„Das Buch.“ Wachtler sprach sehr leise.
„Sie wollen behaupten, sie gingen zu Ingrid Knörr, um sich ein von Ihnen ausgeliehenes Buch zurück zu holen, und dann vergessen Sie es?“ Der Hauptkommissar sprach jetzt mit lauterer Stimme als vorher, und zugleich nahm sie einen solch tiefen Ton an, daß Georg Wachtler bei jedem einzelnen Wort leicht zusammenzuckte. „Meinen Sie nicht, daß das etwas lächerlich ist?“
Wachtler zog am Rest seiner Zigarette und legte sie in einen Aschenbecher auf Böses Schreibtisch. Er steckte sich sofort eine neue an. Er antwortete nicht auf die gestellte Frage.
Böse stand von seinem Stuhl auf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Hettenbach, der das ganze Geschehen beobachtete, hatte bei solcher Art von Verhören stets das Gefühl, sein Chef verberge normalerweise auf unsichtbare Weise, wie groß er wirklich war. Zumindest wirkte dessen gegenwärtiges Gegenüber momentan eher klein und zierlich.
„Es gibt noch eine weitere Lüge, Herr Wachtler.“ Böse setzte sich direkt vor Wachtler auf die Schreibtischecke. Das tat er immer, wenn er sein Gegenüber nervös machen wollte. Man sah, wie Wachtler sich zusehends unwohler fühlte in der Nähe des Hauptkommissars.
Böse sprach weiter: „Sie sagten, Sie waren nur kurz bei Ingrid Knörr. Wir mußten aber feststellen, daß Sie sich nicht eine, sondern mindestens vier Zigarettenlängen bei Ihrer Kommilitonin aufhielten. Auf dem Fenstersims draußen, also außerhalb der Wohnung, fanden wir einen Aschenbecher, gefüllt mit vier abgebrannten Zigarettenkippen. Wir konnten ganz sicher feststellen, daß es tatsächlich vier Zigaretten sind und nicht nur eine, denn diese Kippen sehen nicht aus wie gewöhnliche.“
Böse hielt Wachtler ein Foto hin, auf dem der Aschenbecher mit den Aschestückchen zu sehen war. „Diese hier sehen so aus wie die da.“ Der Hauptkommissar zeigte auf den Aschenbecher, in dem Wachtlers Zigarette noch vor sich hin brannte. „Hineingelegt und von selbst abgebrannt. Und auf der Asche ist deutlich zu lesen, welche Zigarettenmarke benutzt wurde. Frau Knörr war Nichtraucherin. Sie hat es nur geduldet, daß man bei ihr am geöffneten Fenster rauchte. Sie haben die Angewohnheit, Ihre Zigaretten auf diese Art ausgehen zu lassen. Und es ist Ihre Marke.“
Hauptkommissar Böse beugte sich leicht nach vorn zu Georg Wachtler: „Herr Wachtler, es war nicht eine Zigarettenlänge, die Sie sich bei Frau Knörr aufhielten, sondern vier, wenn Sie sie gleich hintereinander geraucht haben. Ich muß annehmen, daß Sie Kettenraucher sind und sich die ganze Zeit am offenen Fenster bei Frau Knörr aufgehalten haben. Und dabei haben Sie Ihren Wein getrunken, nicht wahr?“ Böses ironischer Unterton war nicht zu überhören.
„Nein, ich bin kein Kettenraucher!“ rief Wachtler. Hettenbach bemerkte kleine Schweißperlen auf der Stirn des Studenten. „Es war alles ganz anders.“ Er zögerte, dann: „Ja, ich habe mehr geraucht. Ich war auch länger da. Das hat sich so ergeben.“
„Wie lange waren Sie da?“ fragte Böse sofort.
„Ich weiß es nicht.“
„Das sollten Sie aber wissen.“
„Ich...vielleicht zwei Stunden.“
„Also von circa 18°° bis 20°° Uhr?“ warf Hettenbach ein.
„Ja.“ erwiderte Wachtler.
„Was haben Sie und Ingrid Knörr gemacht in dieser Zeit?“
„Nichts, nur geredet.“
„Und geraucht und Wein getrunken.“
„Ja.“
Hauptkommissar Böse stand von der Schreibtischkante auf. Er ging zum Fenster und öffnete es, wofür Hettenbach ihm still dankte. Die Zigarettenmarke Wachtlers stank bestialisch, fand er.
„Herr Wachtler, haben Sie Frau Knörr umgebracht?“
Wachtler drehte sich erschrocken zu Böse um. „Nein!“ antwortete er heftig.
Böse nahm eine Zeitung in die Hand, faltete sie auseinander und hielt sie Georg Wachtler vor die Nase.
„Haben Sie das gelesen?“ fragte er ihn.
Der junge Mann murmelte die Schlagzeile leise vor sich hin: „Zwei rätselhafte Morde am selben Abend im selben Haus.“ Wachtler sah den Hauptkommissar fragend an: „Warum zeigen Sie mir das? Was hat das zu bedeuten?“
„Das bedeutet, daß wir vorgestern Abend im Erdgeschoß des Hauses, in dem Ingrid Knörr wohnte, eine weitere Tote fanden. Sie heißt Jutta Sturm. Kennen Sie sie zufällig?“
„Nein!“ sagte Wachtler barsch. „Sie sind ja verrückt! Wollen Sie mir das etwas auch noch anhängen?“ Er sah Böse aus zusammengekniffenen Augen an.
„Nein, Herr Wachtler, anhängen wollen wir Ihnen gar nichts. Wir stellen nur Fragen, die Sie wahrheitsgetreu zu beantworten haben.“
„Ich kenne die Frau nicht“, sagte der junge Mann mit fester Stimme.

Georg Wachtler wurde noch etwa zehn Minuten lang verhört, aber es kam nichts anderes dabei heraus, als Böse und Hettenbach schon wußten. Böse fragte ihn noch einmal, warum er nicht gleich all das gesagt habe, was sie nun von ihm erfahren hatten. Wachtler hatte eine plausible Erklärung dafür, gegen die niemand etwas einwenden konnte. Er hatte Angst gehabt, für den Mörder gehalten zu werden. Seiner Aussage nach hatte Ingrid Knörr noch gelebt, als er sie verlassen hatte.

Nach Beendigung des Verhörs sagte Wachtler ziemlich zynisch: „Sie glauben doch wohl selber nicht, daß das für eine Mordanklage ausreicht, oder? Ich finde es geradezu grotesk, mir mit einem Fingerabdruck und abgebrannter Zigarettenasche zwei Morde anhängen zu wollen.“
Böse versicherte ihm noch einmal, daß er ihm nichts anhängen wolle, und nur seine Arbeit tue. Er rechtfertigte sich damit, daß er allen Details nachgehen müsse. Danach durfte Wachtler gehen. Der Hauptkommissar ärgerte sich über die Beharrlichkeit des jungen Mannes.
„Könnte mal ein guter Strafverteidiger werden“, sagte Hettenbach, „zumindest kennt er sich in Sachen Beweisführung aus. Er weiß selber zu gut, daß wir uns nur auf Indizien stützen können.“
Böse setzte sich mit resigniertem Gesichtsausdruck hin und erwiderte nichts, als Hettenbach noch erwähnte: „Wir brauchen einen handfesten Beweis, sonst können wir ihm nichts anhaben.“
Böse, Hettenbach und Goutier saßen zusammen in Böses Büro. Böse war ziemlich geschafft. Hettenbach hatte die ganze Zeit, als der Hauptkommissar mit Wachtler gesprochen hatte, ruhig zugesehen. Nun versuchten Sie zu dritt noch einmal, alles genau zu durchdenken.
Der Hauptkommissar nahm einige Fotos und Zettel mit Notizen. Er begann sie an eine Pinwand zu heften und erläuterte: „Wir haben das Haus, Krummer Timpen Nr. 25. Im obersten Stockwerk wird gegen 22.30 Uhr eine junge Frau wahrscheinlich getötet. Aus uns unbekannten Gründen stieß sie gegen die Kante ihres Schreibtisches. Ob sie gestoßen wurde oder aus eigenem Anlaß fiel, ist nicht sicher geklärt. Sie studierte Jura.“Böse hängte ein Foto von Ingrid Knörr auf.
„Wir haben einen jungen Mann, der abends bei ihr zu Besuch war, aber angeblich nicht mehr zur Tatzeit. Er sagt aus, zwei Stunden lang bei ihr gewesen zu sein. Genauer gesagt, von 18°° bis 20°° Uhr. Wir wissen nicht, wie nah er bei der Wahrheit liegt, aber die Beweise dafür fehlen, daß er lügt.“
Böse nahm einen Zettel, auf dem Georg Wachtlers Name stand und heftete ihn neben das Foto von Ingrid Knörr.
„Wir haben den Freund der Toten, der sie am nächsten Morgen findet.“ Ein Zettel mit Norbert Schorns Namen wanderte auf die andere Seite des Fotos. „Schorn hat ein Alibi für die Tatzeit.“
Böse heftete ein Foto von Jutta Sturm unter das erste Foto. „Am Abend des gleichen Tages finden wir eine zweite Tote, die eine halbe Stunde nach Ingrid Knörr in ihrer Wohnung umgebracht wird. Eine alte Frau, Erna Veckenstadt, hat an dem Abend, als die Verbrechen begangen wurden, Jutta Sturm in deren Küche beobachtet.“
Böse hängte den Namen von Erna Veckenstadt neben das Foto von Jutta Sturm.
„Erna Veckenstadt sagt aus, die Tote habe gelesen, telefoniert, das Hinterhaus betrachtet und sei dann aus der Küche gelaufen. Als sie zurückkam, habe sie Erna Veckenstadt fotografiert.“
„Sie hat was?!“ fragte Hettenbach ungläubig.
„Ja, das hat mir die Veckenstadt noch nachträglich erzählt. Die Sturm hat sie an dem Abend von ihrem Fenster aus fotografiert. Die alte Dame war sehr empört darüber.“
„Woher weiß sie das denn, es war doch dunkel?“ fragte Goutier.
„Im Dunkeln benutzt man normalerweise ein Blitzgerät. Zweimal hat sie einen Blitz gesehen. Daher hat sie ihre Vermutung.“
„Nicht dumm, die alte Dame“, murmelte Hettenbach.
„Jetzt frage ich mich nur, warum die Sturm das überhaupt getan hat“, fuhr Böse in seiner Rede fort. „Niemand sonst aus beiden Häusern hat etwas gehört oder gesehen. Im Umfeld der Bekannten, Freunde und Verwandten kann keiner auch nur einen Hinweis darauf geben, daß eine der beiden Frauen irgendwelche Schwierigkeiten oder Feinde hatte, oder an mysteriösen Vorgängen beteiligt war, um ein Motiv für einen Mord zu bieten. Zwischen den beiden Frauen bestand keinerlei Verbindung, außer daß sie im selben Haus lebten, und in guter Nachbarschaft zueinander standen. Georg Wachtler ist der einzige, den man in den Täterkreis nehmen könnte. Allerdings steht das auf sehr wackeligen Füßen.“
„Sie wollen sagen, es gibt eigentlich gar keinen Täterkreis, sondern nur Wachtler“, bemerkte Goutier süffisant.
„Sie haben es erfaßt.“ Böse stellte sich wie ein Lehrer in den Raum und fragte: „Nun, meine Herren, was schließen wir daraus?“
Hettenbach antwortete resigniert: „Dies wird eine weitere Akte für ungeklärte Fälle werden.“
„Wahrscheinlich“, bestätigte Böse. „Nichtsdestotrotz könnten wir noch einmal in die Wohnung der Jutta Sturm fahren. Mir läßt es keine Ruhe, was Erna Veckenstadt mir da gestern abend erzählt hat. Vielleicht finden wir ja noch etwas.“
„Na ja,“, sagte Hettenbach zweifelnd, „aber erst nach Feierabend, okay Chef? Wir haben noch einige andere Fälle zu bearbeiten als nur diesen einen.“ Der Kommissar und Goutier begaben sich an ihre eigenen Schreibtische, um den immerwährenden Papierkrieg wieder aufzunehmen, den sie täglich führten, wenn sie nicht irgendwelchen gedungenen Mördern auf der Spur waren. Hauptkommissar Böse blieb alleine vor seiner Pinwand zurück und schüttelte mit dem Kopf. „Was für eine merkwürdige Sache“, murmelte er in sich hinein. Dann tippte er mit seinem Zeigefinger auf den Zettel mit Wachtlers Namen und sagte: „Ich traue Ihnen nicht, mein Lieber.“

5. und letzter Teil folgt in Kürze

Dienstag, 15. Mai 2007

Spiegelbilder, 3. Teil

Sie standen vor der Tür von Georg Wachtler, aber er war nicht Zuhause.
„Verdammt!“ fluchte Hauptkommissar Böse.
„Und jetzt?“ fragte Hettenbach.
„Warten“, erwiderte sein Chef, „er wird schon irgendwann wieder auftauchen.“
„Und wie lange sollen wir hier warten?“ fragte Hettenbach.
Böse stöhnte: „Herr Kommissar Hettenbach, was ist eigentlich mit Ihnen heute los? Natürlich warten wir nicht hier. Haben wir jemals irgendwo vor irgendwelchen Türen gewartet?“
„Nein, Chef“, kam es kleinlaut von der Seite.
„Und wenn er es gar nicht war?“ fragte Goutier.
„Bin ich denn hier im Kindergarten? Wer geht davon aus, daß er der Mörder ist?“
„Ich dachte ja nur“, meinte Dom ebenso kleinlaut. Er fürchtete die Stimmerhebung Böses von allen am meisten.
„Richtig, Goutier, denken ist nicht falsch. Es sollte aber auch die richtige Richtung sein, in die man denkt. Der Fingerabdruck auf dem Weinglas beweist rein gar nichts. Aber Wachtler war nicht ehrlich, als er sagte, er wäre noch nie in der Wohnung der Knörr gewesen. Und wenn ich eines nicht ausstehen kann, dann ist es, wenn man mich anlügt.“
Und damit wandte er sich zum Gehen. „Wollen wir irgendwo ein Schnitzel essen?“ fragte er seine Mitarbeiter, die beide nicht genau wußten, wie es jetzt weitergehen sollte. Zustimmend folgten sie ihrem Chef, der zielstrebig auf eine Gaststätte zusteuerte, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.

Die drei Beamten betraten das Restaurant. Sie sahen sich im Schankraum um. Es waren nur zwei Tische besetzt. An dem einen Tisch saß ein Paar mittleren Alters. An dem anderen saß Georg Wachtler.
„Das nenne ich Zufall“, sagte Böse.
Die drei Männer gingen auf Wachtler zu. Als er sie sah, hielt er in der Bewegung, die Gabel in den Mund zu stecken, abrupt inne.
„Guten Tag, Herr Wachtler. Wir waren gerade bei Ihnen Zuhause, aber Sie waren nicht da. Und jetzt treffen wir Sie hier.“ Böse dachte sofort, daß er sich noch unbeholfener nicht hätte ausdrücken können. Der Student steckte den Bissen in seinen Mund.
„Dürfen wir uns setzen? Wir wollten gerade zu Mittag essen.“ Der Hauptkommissar zog einen Stuhl vom Tisch und setzte sich darauf. Hettenbach und Goutier folgten seinem Beispiel. Georg Wachtler sagte kein Wort und aß weiter. Der Wirt kam. Hettenbach bestellte drei panierte Schnitzel mit Kartoffeln und Bohnen. Der Wirt verschwand wieder.
„Darf ich fragen, warum Sie bei mir Zuhause waren“, fragte Wachtler interessiert.
„Nun, es gibt da noch eine Angelegenheit zu klären“, Böse sah Wachtler mit einem prüfenden Blick an.
„Ich dachte, ich hätte Ihnen alles gesagt, was Sie wissen wollten“, der junge Mann wich dem Blick Böses aus und schnitt an seinem Schnitzel herum.
„Nein, Herr Wachtler, das haben Sie nicht getan. Offensichtlich waren Sie am Abend des Mordes an Frau Knörr doch in deren Wohnung.“ Der Hauptkommissar beobachtete Wachtler aufmerksam. Dieser legte seine Gabel auf den Tisch und trank einen Schluck Wasser. Sein Blick ging schnell von einem zum anderen. Während er sich den Mund mit einer Serviette abwischte, fragte er fast beiläufig: „Wie kommen Sie denn darauf?“
Böse registrierte, daß Wachtler es vermied, ihm direkt in die Augen zu sehen.
„Wir haben einen Fingerabdruck von Ihnen in der Wohnung gefunden“, erläuterte Hettenbach. „Und nun wollen wir von Ihnen gerne wissen, warum Sie uns verschwiegen haben, daß Sie in der Wohnung waren.“
Böse beobachtete, wie die rosige Farbe auf Wachtlers Wangen langsam weiß wurde. „Ach, du liebe Güte! In meiner Wohnung befinden sich wahrscheinlich Fingerabdrücke von Leuten, die das letzte Mal vor drei Wochen bei mir waren!“ Der junge Mann zündete sich eine Zigarette an.
„Dieser Fingerabdruck befand sich aber auf einem Weinglas, aus dem am Abend der Tat getrunken wurde. Außerdem haben Sie uns bei unserem ersten Gespräch gesagt, daß Sie noch nie bei Frau Knörr waren.“ Böse hatte von seiner Freundlichkeit nichts verloren, aber sein Gesichtsausdruck machte seinem Namen alle Ehre. Goutier sah fasziniert auf die Zigarette, an der Wachtler viel zu hastig zog. In kleinen Wölkchen stieß er den Rauch genau auf Hettenbach aus, der ebenso wie Wachtler ganz blaß wurde. Wachtler sagte gar nichts.
Kommissar Hettenbach lehnte sich in seinem Stuhl so weit wie möglich zurück, um dem Qualm auszuweichen, der ihm entgegenkam. Er fragte: „Können Sie uns vielleicht erklären, wie Ihr Fingerabdruck auf ein Glas in Ingrid Knörrs Wohnung kommt, in der Sie angeblich noch nie gewesen sein wollen?“
„Erstens habe ich nicht nie gesagt, sondern nur von gestern abend gesprochen. Und zweitens, sagen Sie mir lieber, woher Sie meinen Fingerabdruck haben!“ Georg Wachtler war sehr ungehalten.
„Wir sind zwar nicht verpflichtet, Ihnen das zu sagen, aber wir sagen es Ihnen trotzdem“, erwiderte Böse. „Vor einem Jahr wurden Sie bei einer Hausbesetzung verhaftet. Daher unsere Gewißheit, daß es sich um Ihren Fingerabdruck handelt.“
Wachtlers Gesicht nahm einen starren Gesichtsausdruck an. Böse sah förmlich, wie es im Kopf des Studenten fieberhaft arbeitete. Nach einer Minute Schweigen antwortete Wachtler: „Also gut, ich war da.“
„Und wann?“ fragte Böse sofort.
Wachtler überlegte einen Augenblick. „Das muß so gegen 18°° Uhr gewesen sein. Ja, nachdem sie mir abgesagt hatte, bat ich sie darum, das Buch abholen zu können, das sie sich von mir ausgeliehen hatte. Ich brauchte es, weil ich noch damit arbeiten wollte.“
„Und dann Sind Sie zu ihr gefahren?“
„Ja.“ Wachtler legte seine Zigarette in den Aschenbecher. Sie qualmte vor sich hin.
„Und warum haben Sie Wein bei Ihr getrunken, wenn Sie nur ein Buch abholen wollten?“ fragte Hettenbach. Der Rauch der Zigarette stieg ihm in die Augen. Er fächelte ihn mit der Hand von sich fort.
„Entschuldigung“, sagte Wachtler und drückte die Zigarette aus. Hauptkommissar Böse fiel auf, daß im Aschenbecher die Asche einer abgebrannten Zigarettenkippe lag. Eine ungewöhnliche Art, seine Zigaretten auszumachen, dachte er.
„Warum haben Sie also Wein bei Ingrid Knörr getrunken?“ stellte Hettenbach seine Frage noch einmal.
„Sie hat ihn mir angeboten.“ Wachtler spielte nervös mit dem Messer.
„Obwohl es ihr nicht gut ging?“
„Ja! Ich habe schnell getrunken und bin dann wieder gegangen.“
„Wie lange waren Sie bei ihr?“ fragte Böse.
„Vielleicht eine Zigarettenlänge.“
„Nicht noch etwas länger? Nicht vielleicht auch einige Stunden?“
Der Student ließ das Messer geräuschvoll auf den Teller fallen. „Nein, Mann! Nachdem ich den Wein getrunken habe, bin ich gegangen.“ Wachtler wurde ärgerlich.
„Und dann gingen Sie nach Hause?“ fragte Böse.
„Ja. Dort habe ich den ganzen Abend über gearbeitet.“
„Ja“, murmelte Böse, „das sagten Sie uns bereits.“ Er sah Wachtler einen Moment lang forschend an. Dann fragte er: „Warum haben Sie uns nicht gleich erzählt, daß Sie bei Frau Knörr waren?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte ich Angst“, antwortete Wachtler nervös. Er schob seinen leeren Teller zur Seite.
„Wovor hatten Sie Angst?“ wollte Hettenbach wissen.
„Genau davor, was jetzt eingetreten ist!“ sagte Wachtler wütend. „Sie verdächtigen mich doch!“
Die drei Beamten sahen sich schweigend an. Böse brach das Schweigen: „Glauben Sie nicht auch, daß eine Lüge Sie noch viel verdächtiger macht, Herr Wachtler?“ Aus Böses Stimme war eindeutig der zweifelnde Ton herauszuhören.
Georg Wachtler stand auf. „Darf ich jetzt gehen?“ fragte er schroff. Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne.
„Ja, Sie dürfen“, antwortete Böse. „Seien Sie morgen früh bitte im Präsidium. Wir müssen Ihre Aussage neu aufnehmen.“ Wachtler drehte sich um und verließ, nachdem er am Tresen bezahlt hatte, das Lokal.
Die drei Beamten bekamen ihr Essen serviert.
„Ich werde mir nachher noch mal die Wohnungen der beiden Opfer ansehen“, sagte der Hauptkommissar.
„Mhm, Sie haben Wachtler gar nichts von Jutta Sturm erzählt, Chef“, bemerkte Goutier.
„Stimmt, das habe ich mir für morgen aufgehoben. Der Junge war so schon nervös genug.“
„Vielleicht weiß er es ja schon“, sagte Hettenbach mit ironischem Unterton.
„Keine falschen Schlüsse ziehen, Hetti. Wir werden sehen. Er muß nichts damit zu tun haben, auch wenn er sich in Lügen verstrickt hat. Aber sein Verhalten spricht auch nicht gerade für ihn. Ich denke, es ist wichtig, ihn jetzt nicht aus den Augen zu lassen.“
Die drei begannen damit, genüßlich ihre Mahlzeit zu verzehren.

Gut gesättigt und etwas müde ging Hauptkommissar Böse den Krummen Timpen entlang. Hettenbach hatte ihn nicht direkt vor das Haus gebracht, weil es ein Umweg für ihn gewesen wäre. Er und Goutier hatten noch einen Zeugen in einer anderen Angelegenheit zu vernehmen. Sie wollten Böse in einer halben Stunde wieder abholen.
Der Hauptkommissar schloß die Eingangstür des Hauses Nr. 25 auf. Er ging zuerst in den obersten Stock. Die Wohnung der Ingrid Knörr wirkte still, und es war stickig. Ein düsteres Licht lag in den Räumen, denn sie waren nur mit kleinen Fenstern ausgestattet. Ein wolkenverhangener Himmel trug dazu bei, daß die eigentlich weißen Wände graugrün schimmerten. Böse knipste die Deckenleuchte im Wohnzimmer an.
Es war nur ein schwaches Licht, aber es reichte aus, um auch in den Ecken des Zimmers Helligkeit ins Dunkel zu bringen. Böse bewegte sich leise hin und her. Hier und da befingerte er die Dinge, nahm sie kurz in die Hand, betrachtete sie, stellte sie wieder hin. Eine dünne Staubschicht wurde sichtbar, wenn er einen Gegenstand hochnahm. Böse zog eine Schublade nach der anderen auf, hob Wäschestücke einzeln hoch, wühlte ganz vorsichtig zwischen den Kleidungsstücken. Er kam sich vor wie ein Dieb, der eine Geldbörse suchte. Wonach er nun tatsächlich suchen sollte, wußte er nicht, doch das war jedesmal so, wenn er in Mordfällen ermittelte, die so undurchsichtig waren wie diese zwei.
Der viel zu kleine Schreibtisch war beladen mit dicken und dünnen Büchern. Titel wie Mietrecht, Strafrecht, Strafprozeßordnung zierten die Buchdeckel. Zettel lagen verstreut herum, teilweise mit unleserlichen Notizen beschrieben. Auffällig war das permanente Zeichen des Paragraphen. Böse hatte den Eindruck, daß Ingrid Knörr eine Ordentliche Studentin gewesen war, obgleich ihr Schreibtisch ebenfalls einem Schlachtfeld glich wie der Georg Wachtlers.
Böse mußte an den Schreibtisch seines Großvaters denken. Jedes darauf befindliche Gerät hatte seinen festen Platz. Nie hatte er als Kind den Eindruck gehabt, sein Großvater würde daran arbeiten. Er hatte immer nur dahinter gesessen und nichts getan. Wenn der alte Mann nicht hingesehen hatte, hatte Böse die Gegenstände berührt, um festzustellen, ob sie echt waren oder vielleicht angeklebt.
Der Hauptkommissar nahm die Bücher von Ingrid Knörr einzeln in die Hand. Er suchte die heraus, die aus der Uni Bibliothek ausgeliehen waren. Er legte sie auf einen Stapel übereinander. Dann setzte er sich auf das kleine Sofa. Er war müde. Er versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Er stellte sich vor, wie die Tote mit ihrem Mörder hier gesessen und Wein getrunken hatte. Vielleicht hatte Georg Wachtler die Morde begangen. Zumindest diesen ersten Mord. Böse sah ihn vor Augen. Eventuell hatten die beiden gearbeitet, diskutiert, gefachsimpelt oder einfach nur über Alltägliches geplaudert.
Der Hauptkommissar stellte sich jemand anderes vor, mit dem die Knörr gesprochen hatte. Und irgendwann war etwas vorgefallen, das den Gesprächspartner dazu veranlaßt hatte, sie umzubringen. Wollte er etwas von ihr? Zärtlichkeiten, eventuell mehr. Böse versuchte sich vorzustellen, wie Georg Wachtler sich an das Mädchen heranmachte. „Möglich wäre das“, sagte er gedankenverloren. Er dachte, daß sie sich vielleicht mit jemandem gestritten hatte, denn es hatte ja offensichtlich auch eine körperliche Auseinandersetzung gegeben. Einen Streit hätte aber jemand hören können. Niemand hat etwas gehört, dachte Böse.
Dem Hauptkommissar ging der Gedanke durch den Kopf, wie lächerlich es wäre, wenn Ingrid Knörr tatsächlich nur unglücklicherweise das Opfer eines Sturzes gewesen war, ohne das Dazutun einer anwesenden Person. Doch irgend etwas sagte ihm, daß es sich hierbei um Mord handeln mußte. Zumindest unbeabsichtigterweise. Körperverletzung mit Todesfolge, dachte Böse.
Und dann die zweite Tote. Was war da los gewesen? Bei dem Mörder handelte es sich vielleicht um den selben Täter. Das war wahrscheinlich, aber nicht unbedingt. Wenn es derselbe war, dann mußte er beide gekannt haben. Was hatte er sonst bei Jutta Sturm gewollt? Woher hatte er gewußt, daß da unten eine weitere junge Frau wohnt? Man braucht nur auf die Türschilder zu sehen, um zu gucken, wer da wohnt, dachte Böse. Wir müssen nach jemandem suchen, der beide Frauen gekannt hat.
„Es muß ein Verrückter gewesen sein, der, einfach so, junge Frauen umbringt“, sagte der Hauptkommissar laut, als wäre noch jemand im Raum. Er stand auf und ging zum Fenster, und öffnete es. Am Himmel zogen dicke Regenwolken vorbei. In der Nacht gibt es sicher Regen, dachte Böse. Er atmete tief durch.
Er sah in die einzelnen Fenster des Hinterhauses. In allen Wohnungen brannte Licht. Direkt gegenüber konnte er auf den Balkon des Nachbarn sehen. Böse überlegte, wie häufig er abends aus dem Fenster sah, wenn er sich in seiner Wohnung aufhielt. Er konnte sich nicht erinnern, dies oft zu tun.
Als der Hauptkommissar sich aus dem Fenster beugte, um nach unten zu schauen, entdeckte er einen Aschenbecher draußen auf dem Fenstersims. Böse nahm ihn vorsichtig in die Hand, darauf achtend, ihn so zu nehmen, daß möglichst wenig Fläche von seinen Fingern bedeckt wurde. Er stellte das Gefäß nach innen auf die Fensterbank und schloß das Fenster wieder.
Im Aschenbecher lagen vier Aschestücke, die etwa drei Zentimeter lang waren. Der Hauptkommissar starrte auf den Aschenbecher. Er näherte sich ihm auf eine Entfernung von fünfzehn Zentimetern und sagte verblüfft: „Das gibt es nicht!“ Böse sah ganz deutlich, daß auf der Asche der Zigaretten der Schriftzug der Zigarettenmarke zu lesen war. Es war ein Phänomen, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Böse dachte kurz nach. Die chemische Zusammensetzung des Schriftzuges war eine andere als die des Papiers und des Tabaks, das war ihm klar. Jedoch, daß man nach dem Verbrennen tatsächlich noch lesen konnte, um welche Marke es sich handelte, verblüffte ihn sehr.
Böse fiel ein, daß Wachtler seine Zigaretten einfach in den Aschenbecher legte. Sie brannten von selbst herunter, bis kein Tabak mehr vorhanden war. Aber Böse dachte auch, daß es ein dummer Zufall sein könnte. Wieviel Menschen gab es, die ihre Zigaretten auf diese Weise ausmachten. Es stellte sich für den Hauptkommissar noch eine weitere wichtige Frage. War Ingrid Knörr Nichtraucherin gewesen?
Böse nahm den Aschenbecher so wie vorher zwischen seine Finger. Er trug ihn wie ein frisch geschlüpftes Küken. Mit der anderen Hand hielt er die Bücher unter dem Arm fest. Er verließ die Wohnung und schloß umständlich ab. Dann ging er nach unten.
Er wollte noch einmal in die Wohnung von Jutta Sturm. Wenn Hauptkommissar Böse schwierige Fälle zu bearbeiten hatte, war es immer am besten für ihn, an den betreffenden Ort selbst zu gehen, wo der Mord geschehen war. So nah wie möglich da zu sein, um nachempfinden zu können, was geschehen sein könnte, hatte ihm schon oft weiter geholfen.
Normalerweise verbrachte er die meiste Zeit an seinem Schreibtisch, aber hierbei zog es ihn an wie ein Automat den Spielsüchtigen. Mit diesem zweiten Mord konnte Böse überhaupt nichts anfangen. Vielleicht wäre der erste ja ziemlich schnell zu klären gewesen durch seinen seltsamen Fund. „Aber wie paßt der zweite Mord dazu“, fragte er laut.

Hauptkommissar Böse hatte den Aschenbecher und die Bücher auf den Küchentisch gestellt und beschäftigte sich in dieser Wohnung mit den gleichen Dingen wie schon im dritten Stock. Er fand gar nichts. Er stellte fest, daß es sich um einen ordentlichen Haushalt handelte. Es war die Wohnung einer alleinstehenden Fotografin, die offensichtlich besonders gerne Kinder abgelichtet hatte. Überall hingen Fotografien von Kindern jeden Alters.
Auf dem Küchentisch hatten sie, als die Leiche entdeckt worden war, Bücher gefunden, in denen Jutta Sturm gelesen haben mußte. Und ein nicht zuende geschriebener Brief lag dort, in dem sie einer Freundin über die letzte Woche ihres Lebens berichtete. Aus dem Brief ging hervor, daß Jutta Sturm mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Irland zu gehen, um dort eine Reportage zu schreiben. Worüber, das hatte sie nicht mehr erzählen können. Es hätte Böse sehr interessiert.
Der Hauptkommissar zuckte zusammen, als es an der Wohnungstür klingelte. Er ging hin und öffnete.
„Guten Abend, Herr Inspektor.“
„Frau Veckenstadt, was machen Sie hier?“ Böse war überrascht.
„Ich habe Sie von meinem Balkonfenster aus gesehen. Da dachte ich mir, bevor ich Sie anrufen muß, komme ich lieber gleich rüber.“
„Warum wollten Sie mich denn anrufen?“ fragte Böse. „Kommen Sie doch herein.“ Er hielt der alten Dame die Tür auf. Frau Veckenstadt trat in den Flur und sah bestürzt auf die Umrißlinie der Leiche auf dem Teppichboden.
„Ach, Gott, das arme Ding“, sagte sie.
„Sie wollten mich anrufen, Frau Veckenstadt. Warum?“ fragte Böse neugierig.
„Ja, richtig, mir ist da gestern was eingefallen. Nachdem ich gehört habe, daß diese Frau so furchtbar umgekommen ist, dachte ich, es sei vielleicht wichtig für Sie.“
„Erzählen Sie, bitte.“
„Also, an dem Abend, als das Mädchen oben umgebracht wurde, hat die Dame hier in der Küche gesessen. Sie hat gelesen, glaube ich. Und sie hat telefoniert.“
„Ah, ja, und das ist Ihnen noch eingefallen“, sagte der Hauptkommissar konsterniert.
„Ja, als sie telefonierte, sprang sie nämlich plötzlich auf, so als sei sie erschrocken. Sie ist zum Fenster gegangen und hat auf unser Haus gesehen. Dann legte sie ganz schnell den Hörer auf, lief aus der Küche, kam wieder an das Fenster und hat mich fotografiert.“
„Sie hat Sie fotografiert?“ fragte Böse.
„Ja, ich glaube es jedenfalls. Das Gerät, durch das sie sah, konnte ich nicht erkennen, aber es hat zweimal hintereinander geblitzt. Also nehme ich an, daß sie fotografiert hat. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Aha, und was war dann?“
„Das weiß ich nicht. Ich fand das sehr unhöflich, mich einfach so zu fotografieren. Sie hat wohl nicht geglaubt, daß ich es bemerke.“
Die alte Frau war sichtlich empört. Sie wandte sich zum Gehen.
„Danke, Frau Veckenstadt. Es war sehr gut, daß Sie das erzählt haben.“
„Oh, ich hoffe, daß es Ihnen hilft. Vielleicht ist es ja auch gar nicht wichtig.“
„Vielleicht doch, Frau Veckenstadt“, sagte Böse zur Beruhigung. Er schloß die Tür hinter der alten Dame. Dann ging er in die Küche und stellte sich an das Fenster. Er sah auf das Hinterhaus. Zu jedem Fenster, zu jedem Balkon. Nichts rührte sich dort. Kein Mensch war zu sehen. Hauptkommissar Böse schüttelte den Kopf und verließ die Wohnung. Das Gespräch mit der alten Frau verwirrte ihn noch mehr als alles vorher schon Geschehene.
Böse war bereits draußen, als ihm einfiel, daß er den Aschenbecher und die Bücher vergessen hatte. Er ging zurück und holte sie. Er hatte den Aschenbecher auf die Bücher gestellt und deckte seinen empfindlichen Fund draußen mit einer Hand ab. Es war windig geworden. Der Hauptkommissar hatte Angst, die Asche könne wegfliegen. Kommissar Hettenbach wartete schon im Auto auf ihn. Böse stieg ein. Sie fuhren zusammen ins Präsidium.

Sonntag, 1. April 2007

Spiegelbilder, 2. Teil

Als Böse und Hettenbach vor der Tür von Georg Wachtler standen, erklang das Lied für Elise von Beethoven aus der Wohnung. Böse hielt seinen Zeigefinger über den Klingelknopf und wartete ab, bis das Klavierspiel zuende war. Das anschließende Klingeln zerriß die ruhige Atmosphäre, die durch die Musik für einen Moment das Treppenhaus zu einem winzigen Konzertsaal gemacht hatte. Die Tür wurde geöffnet. Ein junger Mann begrüßte sie.
„Guten Tag, wir sind von der Polizei. Ich habe heute Mittag mit Ihnen telefoniert. Dies ist Kommissar Hettenbach. Sie sind Georg Wachtler?“
„Ja“, Wachtler sah sie mit einem nervösen Blick an.
„Wir hätten einige Fragen an Sie. Dürfen wir hereinkommen?“ Hauptkommissar Böse haßte es, zehnmal am Tag das Gleiche sagen zu müssen.
„Ja, bitte.“ Wachtler führte sie in ein Zimmer. Ein Klavier stand mit geöffnetem Deckel an einer Wand. Davor lagen mehrere Notenblätter auf dem Boden verstreut. Das ganze Zimmer war vollgestopft mit Büchern, die sich in mehreren Regalen stapelten. Auf einem Schreibtisch lagen ebenfalls Bücher, mit denen offensichtlich gearbeitet wurde. Notizzettel zierten ihr sonst so nüchternes Aussehen. Graue Schwaden von Zigarettendunst hingen im Zimmer und verflüchtigten sich.
„Haben Sie eben gespielt?“ fragte Hettenbach.
„Nein, das war eine Platte. So gut bin ich nicht.“
Hauptkommissar Böse ging zum eigentlichen Thema über, weshalb sie gekommen waren. „Sie kennen Ingrid Knörr?“
Wachtler begann Notenblätter unter dem Klavier einzusammeln. „Ja, ich studiere mit ihr zusammen.“
„Sie wurde heute morgen in ihrer Wohnung tot aufgefunden.“
„Was?!“ Wachtler schnellte hoch und stieß sich den Kopf am Klavier. „Das haben Sie am Telefon gar nicht gesagt.“ Er nahm sich eine Zigarette und zündete sie an.
„Sie wurde wahrscheinlich Opfer eines Verbrechens“, erläuterte Böse.
Georg Wachtler sagte gar nichts. Er rieb sich den Hinterkopf.
„Ihr Freund, Herr Schorn teilte uns mit, daß Sie gestern abend mit Frau Knörr verabredet waren.“
„Mein Freund? Ich kenne niemanden, der so heißt.“ Wachtler zog nervös an seiner Zigarette.
„Nein, nicht Ihr Freund“, sagte Böse, „der Freund der Ingrid Knörr. Ihren Namen haben wir von Ihrem Dozenten, bei dem Sie eine Hausarbeit schreiben.“
„Dr. Bartowski?“ fragte Wachtler.
„Ja, so heißt er. Waren Sie gestern bei Frau Knörr?“
„Nein, war ich nicht.“
„Aber Sie waren mit Ihr verabredet, oder?“ fragte Böse.
„Ja, aber sie hat mir abgesagt.“
„Wann?“
Wachtler überlegte. „Nachmittags war das, glaub' ich.“ Er legte seine Zigarette in einen Aschenbecher.
„Und warum hat sie Ihnen abgesagt?“
„Eh, sie sagte, es ginge ihr nicht gut. Ihr war schlecht oder so.“
„Und Sie sind nicht hingegangen, um mit ihr zu arbeiten?“
„Nein.“
„Hat Ingrid Knörr vielleicht erwähnt, daß sie noch anderen Besuch erwartet?“
„Nein, sie sagte nur, daß wir nicht arbeiten könnten.“ Der Rauch der Zigarette im Aschenbecher kreiste in einer sanft aufsteigenden Bahn nach oben.
„Was haben Sie abends gemacht?“ fragte Böse weiter.
„Ich war hier. Ich habe gelernt.“
„Sie studieren Jura?“ Der Hauptkommissar stand an dem Schreibtisch und blätterte in einem Buch.
„Ja.“ Wachtler trank einen Schluck Mineralwasser aus einer Flasche, die neben dem Klavier stand.
„Haben Sie sich schon spezialisiert?“ Böse klappte das Buch zu.
„Strafrecht interessiert mich am meisten.“ Der junge Mann begann auf dem Schreibtisch aufzuräumen. Er stapelte die Bücher auf der linken Seite der Arbeitsfläche zu einem bedrohlich wackeligen Turm. Hettenbach beobachtete, wie der Rauch der Zigarette zur Zimmerdecke empor stieg. Die Decke zeigte in den Ecken nikotinvergilbte Tapeten.
„Waren Sie die ganze Zeit über alleine?“ fragte Böse weiter.
„Wie?“ Georg Wachtler sah den Hauptkommissar irritiert an.
„Gestern abend, Herr Wachtler, waren Sie da die ganze Zeit alleine hier bei sich?“
Wachtler sortierte einige Papiere. „Ja, natürlich, ich habe ja gelernt. Da brauche ich Ruhe“, beantwortete er die Frage.
„Kann das jemand bezeugen?“
„Warum? Verdächtigen Sie mich?“
„Nein, nein, das müssen wir überprüfen. Wir müssen alles überprüfen. Haben Sie einen Zeugen?“
Wachtler rieb sich den Hinterkopf. „Nein, nicht, daß ich wüßte.“
„Wie gut waren Sie denn mit Frau Knörr befreundet?“ warf Hettenbach ein.
„Im Prinzip nicht gut. Wir kennen uns von der Uni her. Es war Zufall, daß wir uns treffen wollten. Ich habe eines von drei Exemplaren aus der Uni Bibliothek, daß wir für die Hausarbeit brauchen. Ich hatte es ihr ausgeliehen.“ Wachtler steckte sich eine neue Zigarette an.
„Ich nehme an, Sie sprechen von einem Buch“, stellte Böse fest.
„Ja“, bestätigte Wachtler. Er stand dabei hinter dem Schreibtisch steif wie ein Stock, die Augen wachsam auf den Hauptkommissar gerichtet. Er blies den Rauch nach jedem Zug an der Zigarette mit einem kräftigen Stoß aus. Hettenbach begann nervös zu werden. Es machte ihn immer nervös, mit Rauchern in einem Raum zu sein. Schon alleine der Gedanke an das Inhalieren des vielen Nikotins bereitete ihm Übelkeit und Atemnot.
„Hatten Sie vorher schon mit Ingrid Knörr näher zu tun?“ hörte er Böse fragen.
„Ich sag' doch, ich kannte sie nur von der Uni.“
Hettenbach begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Der viele Rauch ging ihm entsetzlich auf die Nerven.
„Dann waren Sie auch noch nicht in ihrer Wohnung?“
Hettenbach fragte sich, ob Hauptkommissar Böse hier den ganzen Nachmittag verbringen wollte.
„Nein“, sagte Wachtler entschieden. Er setzte sich auf den Klavierhocker. Er zog an seiner Zigarette. Die erste von eben qualmte immer noch im Aschenbecher vor sich hin. Hettenbach spürte eindeutig das Bedürfnis, die Fenster zu öffnen oder besser noch, die Wohnung zu verlassen.
„Gut, Herr Wachtler, das war es dann fürs erste.“ Hettenbach atmete erleichtert auf. Er und Böse gingen zur Wohnungstür. Wachtler begleitete sie.
„Sagen Sie“, bemerkte er, „wie ist sie denn umgebracht worden?“ Er hielt die Tür auf.
„Das wissen wir noch nicht genau“, sagte Böse. Die beiden Beamten verabschiedeten sich.
„Auf Wiedersehen“, sagte Georg Wachtler. Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, erklang wieder Klaviermusik.
„Mein Vater konnte die Elise wunderschön spielen“, sagte Böse, als sie die Treppe hinunter gingen. „Aber ich bin über die ersten zehn Takte nie hinausgekommen.“
„Wie, Sie können Klavier spielen?“ Hettenbach sah Böse überrascht an.
„Aber nein, mein Vater hatte gehofft, ich würde es lernen. Bis ihm meine Lehrerin mitteilte, daß es kaum einen Sinn hätte, aus mir einen Musiker zu machen. So wie ich die Tastatur malträtierte, hätte ich eher Berufsaussichten für das Fleischergewerbe gehabt.“ Böse betrachtete kurz seine dicken, kräftigen Hände.
Hettenbach lachte laut: „Und Ihr Vater?“
„Er hat es wohl erst eingesehen, als meine Lehrerin ihn bat, mich nicht länger zu quälen.“
Hettenbach öffnete die Haustür. „Ich wollte immer gerne Geige spielen lernen. Aber wir hatten nie genug Geld, um das Instrument anzuschaffen. Dafür spielt jetzt meine Älteste.“
„Spielt sie gut?“ fragte Böse.
„Na ja, sie tut, was sie kann. Wir flüchten immer aus dem Zimmer, wenn sie übt. Der einzige, der ihre Begeisterung am Spiel teilt, ist unser Hund. Er ist fast taub.“
Böse und Hettenbach lachten, als sie zum Auto gingen.
Kommissar Hettenbach startete den Motor. „Seltsam, dieser Wachtler“, sagte er, „er wirkte so gleichgültig.“
„Na ja, wenn er die Tote kaum gekannt hat“, erwiderte Böse. „Wie spät ist es eigentlich?“ fragte er.
Hettenbach sah auf seine Armbanduhr. „Halb sechs.“
„Fahren wir noch mal zum Krummen Timpen“, sagte Böse.

Sie brauchten eine halbe Stunde bis zu ihrem Ziel. Die Straßen der Stadt waren verstopft von gestreßten Autofahrern, die alle zur gleichen Zeit in den Feierabend nach Hause fuhren.
„Ich hasse diesen Berufsverkehr“, fluchte Hettenbach. Er sah eine Parklücke in einer Querstraße, die zum Krummen Timpen führte. Die beiden Männer mußten noch einige Minuten laufen, bis sie am Haus des Geschehens ankamen. Es wurde bereits dunkel. Ein leiser Nieselregen fiel. Das Licht der Laternen verwandelte den Asphalt in ein schwarzes, glitzerndes Band. Die Männer schlugen die Kragen hoch und gingen mit schnellen Schritten auf den Hauseingang zu. Sie klingelten bei Jutta Sturm. Dieser Name stand auf der Klingel im Erdgeschoß. Es tat sich nichts.
„Mist!“ ärgerte sich Böse. Er klingelte im ersten Stock. Die Tür ging auf. Die Mutter mit dem Baby stand im Treppenhaus. Hettenbach ging hoch.
„Guten Abend, sagen Sie, Frau Sturm ist noch nicht da. Wissen Sie, wann sie immer nach Hause kommt?“
„Nein, sie ist Fotografin für eine Zeitung. Sie ist oft unterwegs. Regelmäßige Zeiten, in denen sie Zuhause ist, gibt es gar nicht.“ Das Baby fing an zu schreien.
„Danke schön.“ Hettenbach ging wieder nach unten. Der Hauptkommissar war nicht da. Hettenbach ging nach draußen. Böse wartete vor dem Haus.
„Kommen Sie“, sagte er. Sie gingen in den Hinterhof. „Ist es nicht seltsam, daß keiner etwas sieht und hört, wenn ein Mord geschieht. Aber alles andere kriegen die Leute mit. Von den persönlichsten Dingen haben sie Kenntnis. Nur bei einem Mord, da hat alles geschlafen.“ Böse war ärgerlich. Kommissar Hettenbach sah zum Fenster der Erdgeschoßwohnung.
„Brennt da nicht Licht?“ bemerkte er. Böse sah ebenfalls in die Richtung.
„Sieht fast so aus“, bestätigte er. Ein diffuser Lichtschimmer war in der Erdgeschoßwohnung zu sehen.
„Hier!“ sagte Böse. Er machte eine Räuberleiter aus seinen Händen.
„Und wenn man uns erwischt?“ fragte Hettenbach überrascht.
„Aber Hetti, wir sind von der Polizei. Man kann uns nicht erwischen.“ Böse grinste.
Es war bereits das zweite Mal an diesem Tag, daß der Hauptkommissar ihn Hetti nannte. Böse und er arbeiteten nun schon seit fünfzehn Jahren zusammen. Als Hettenbach damals neu in der Abteilung war, hatte er großen Respekt vor dem schwergewichtigen, kräftigen Mann mit der Stimme, die Mauern durchbrechen konnte, wenn er sie erhob. Es ergab sich nicht oft, daß Böse seine Stimme erhob. Aber wenn es doch geschah, dann nur, wenn es jemand geschafft hatte, seine Geduld auf eine Probe zu stellen, die jeden Normalsterblichen bereits in den Anfängen zum Scheitern verurteilt hätte. Manchmal hatte Hettenbach das Gefühl, sein Chef bestand lediglich aus Masse, die sich eher in die Breite verteilte als in die Höhe, und zum Ausgleich dafür hatte Gott ihn mit einer Stimme ausgestattet, die noch vorhanden war, wenn die Masse sich aus irgendeinem Grund verflüchtigte. Es war wie mit Dominique Goutier, den man erst richtig wahrnahm, wenn man den Schock über sein strahlendes Gebiß überwunden hatte.
Hettenbach stellte seinen linken Fuß in die Hände seines Chefs und stieg mit dem rechten auf das Dach der Garage, die direkt unter dem Fenster der Jutta Sturm lag. Kies knirschte unter Hettenbachs Füßen, als er vorsichtig darüber ging. Der Kommissar starrte durch das Fenster in die Wohnung.
„Da is' was!“ raunte er.
„Was denn?“ Böse war nervös.
„Ich weiß nicht genau.“
„Also los, was ist es?“
„Da liegt jemand!“
„Wo?“
„In dem Flur. Ich kann in den Flur sehen.“
„Da liegt jemand?“
„Ja“, Hettenbach drückte seine Nase gegen die Fensterscheibe. „Ich sehe Füße!“
„Wie? Nackte Füße?“
„Wieso nackt?“
„Na ja, sind die Füße nackt?“
„Nein, natürlich nicht!“
„Aha.“ Böse fragte sich, wie er darauf kam, daß die Füße nackt sein könnten. Kommissar Hettenbach drehte sich um und kletterte umständlich von der Garage.
„Na, das kann ja heiter werden“, konstatierte Hauptkommissar Böse.

Nachdem die Wohnung der Jutta Sturm aufgebrochen worden war, hatte alles den gleichen Ablauf wie am Morgen des Tages in der Wohnung der Ingrid Knörr. Die Spurensicherung und Dr. Glasstetter hatten zuerst geglaubt, sie wurden auf den Arm genommen werden, als sie noch einmal zu der gleichen Adresse fahren sollten, aber dann machten sie routinemäßig ihre Arbeit.
In der Wohnung waren noch weniger Spuren vorhanden als in der von Ingrid Knörr. Die Tote lag im Flur der Wohnung auf dem Bauch. Neben ihr hatte sich eine große Blutlache gebildet. Die Wohnung war so ordentlich, daß man vermuten mußte, die Tote habe einen Hausputz gemacht, bevor sie starb. Dieser Meinung waren zumindest die Leute von der Spurensicherung. Die Todesursache war schon am Tatort eindeutig feststellbar, denn der Rücken der Leiche wies mehrere Einstiche auf, verursacht durch einen scharfen, spitzen Gegenstand. Nach ersten Erkenntnissen lag der Zeitpunkt des Todes fast zeitgleich mit dem Tod der Ingrid Knörr.
Die Nachbarin im ersten Stock wurde noch einmal befragt. Aber sie hatte auch im Erdgeschoß weder etwas gesehen noch gehört. Ihr Mann, der an diesem Abend Zuhause war, bestätigte die Aussagen seiner Frau.
Es erübrigte sich eigentlich, die Nachbarn im Hinterhaus zu befragen, da sie, wenn sie beim ersten Mord schon nichts gesehen hatten, sicher auch zu dem zweiten nichts sagen konnten. Trotzdem schickte Böse noch einmal zwei Beamte los, um ganz sicher zu gehen.
Nach zwei Stunden wurde die Wohnung verschlossen. Hauptkommissar Böse steckte den Schlüssel in die Jackentasche.

Am nächsten Morgen saßen Böse und Hettenbach im Büro und grübelten bei Kaffee und Brötchen über das nach, was sie bisher wußten. Aber sie wußten gar nichts. Das mußten die beiden resigniert feststellen.
„Was ist das nur für eine Geschichte?“ fragte Hettenbach. „Gibt es das, daß zwei Morde im gleichen Haus zur gleichen Zeit geschehen, ohne daß sie etwas miteinander zu tun haben?“
„Nicht zum gleichen Zeitpunkt“, warf Böse ein. „Zumindest einige Zeit muß zwischen dem ersten und dem zweiten Mord liegen.“
„Die beiden Frauen hatten nach Aussage des Freundes von Ingrid Knörr nichts miteinander zu tun. Das ist doch blöd. Da geht jemand hin, trinkt Wein mit der einen, bringt sie irgendwie um, verwischt seine Spuren, geht und bringt noch eine andere um.“ Hettenbach kaute an seinem Brötchen.
„Ein Irrer vielleicht“, sagte der Hauptkommissar nachdenklich und klappte sein Brötchen auseinander. „Ich hasse Fälle wie diese“, konstatierte er und entfernte die Zwiebeln von der Wurst.
Hettenbach grinste: „Oder es war reiner Zufall.“
„Ein Zufall, daß zwei Leute gleichzeitig auf die Idee kommen, im selben Haus eine Frau umzubringen?“ Böse lachte. „Es ist ein Zufall, daß die Mörder nicht die gleiche Frau umbringen wollten.“
Hettenbach konterte: „Vielleicht wollten sie das. Aber der eine mußte feststellen, daß seine Kandidatin schon tot war. Deshalb brachte er eine andere um.“ Die beiden Männer lachten.
Böse sagte: „Vielleicht hat die Sturm auch die Knörr umgebracht und dann sich selbst. Oder jemand dann die Sturm, aus Rache.“ Die beiden Männer krümmten sich vor Lachen.
Dominique Goutier kam herein. Er wartete, bis die beiden sich ausgelacht hatten und sagte dann: „Die Fingerabdrücke in der Wohnung der Toten sind überprüft.“
„Welcher Toten“, unterbrach ihn Hettenbach. Böse lachte immer noch.
„Habt ihr irgendwie was Falsches gegessen?“ fragte Goutier und blätterte in einer Akte. „Also, ehm..., die Wohnung von, Moment, zunächst mal Ingrid Knörr; also, da waren Abdrücke der Toten selbst, dann von der Mutter, dem Freund der Toten, zahlreiche nichtidentifizierte Abdrücke und von Georg Wachtler. Der halbe Abdruck auf dem einen Weinglas gehört zu seinem rechten, kleinen Finger. Seine Fingerabdrücke wurden auch am Fenster, an der Tür zum Bad und an der Klinke der Wohnungstür gefunden.“
„Aber, er hat behauptet, er wäre nicht dagewesen!“ rief Hettenbach.
„Dann hat er gelogen“, sagte Böse trocken. „Wo haben wir seine Fingerabdrücke her?“
„Er wurde im letzten Jahr bei einer Hausbesetzung verhaftet.“
Goutier sprach weiter: „In der Wohnung der zweiten Toten, Jutta Sturm, konnten sämtliche Fingerabdrücke noch nicht identifiziert werden, außer denen der Toten selbst natürlich. Die Tatwaffe wurde bisher nicht gefunden. Es muß ein kleines Schnittchen oder eventuell ...“
„Ein was?“ unterbrach Hettenbach.
„Ein Schnittchen“, betonte Goutier.
Erstaunt lehnte sich Hettenbach in seinem Stuhl zurück. „Das muß aber ein steinhartes Brot gewesen sein, mit dem man die Frau erstochen hat.“
„Was?“ fragte Goutier. „Wieso Brot?“
„Das hast du doch gesagt, oder?“
„Quatsch, ich habe nicht von Brot gesprochen, sondern von einem Schnitt...“ Goutier sprach nicht weiter, weil Böse schallend zu lachen anfing.
„Was ist ein Schnittchen?“ fragte Hettenbach vorsichtig.
„Na, ein Messer“, erwiderte Goutier. „Schnittchen eben, oder Kneipchen, ehm Küchenmesser. Ja, genau, ein Schnittchen ist ein kleines Küchenmesser.“
„Und wieso nennst du es dann Schnittchen?“ fragte Hettenbach.
„Ich weiß nicht, das haben wir immer Zuhause gesagt“, entschuldigte sich Goutier kleinlaut.
„Okay, soweit zur Tatwaffe“, brach Böse die Diskussion ab. „Noch was, Goutier?“
„Ja, ehm...bei der Durchsuchung des Hinterhofes fand man in einer der Mülltonnen eine völlig unversehrte Kaffeetasse, die Reste von Speisesalz enthielt. Das ist deshalb eventuell interessant, weil diese Tasse zu einem sechsteiligen Service gehören könnte, das bei Ingrid Knörr im Küchenschrank steht. Dort fehlt eine Tasse. Das ist alles.“
Böse sah sich die Unterlagen kurz an. „Welches Motiv ist auf der Tasse?“ wollte er beiläufig wissen.
„Männertreu“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Männertreu?“ fragte Hettenbach. „Was ist das?“
„Eine Blume“, antwortete Böse. „Also Hetti, wissen Sie heute gar nichts?“ Böse warf ihm einen Blick zu, als wollte er sagen: „Das weiß doch jedes Kind.“ Der Hauptkommissar wandte sich wieder an Goutier: „Wer hat das mit der Tasse herausgefunden?“
Der junge Beamte räusperte sich: „Ich“, kam es verlegen aus seinem Mund.
„Sehr gut aufgepaßt, Goutier“, lobte Böse ihn, „wer ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten.“ Er stand auf. „Kommt, Leute, es gibt Arbeit.“
Die beiden Polizisten schnappten sich ihre Jacken und verließen das Büro. Der eine mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, das nur noch aus Zähnen zu bestehen schien, der andere eher mit einem grübelnden Ausdruck, weil er versuchte, sich vorzustellen, wie eine Blume aussehen konnte, die den Namen Männertreu besaß. Hinter ihnen verließ ein Hauptkommissar sein Büro, der vor sich hin murmelte: „Ich wußte doch, daß hinter diesen Zähnen noch mehr steckt.“

Fortsetzung folgt...

Montag, 12. März 2007

Spiegelbilder, 1. Teil

Es war Mittwoch, 10.30 Uhr. Hauptkommissar Rose machte gerade seine erste Kaffeepause an diesem Morgen. Seit halb acht hatte er Akten gelesen, einen Bericht geschrieben, zwischendurch telefoniert und zwei Zeugen vernommen. Er zuckte zusammen, als sein Telefon klingelte. Etwas Kaffee schwappte über den Rand seiner Tasse. Rose hielt den Hörer ans Ohr. Jemand am anderen Ende sprach, worauf Rose mit dem Kopf nickte und mehrmals „mhm“ brummte. Er legte den Hörer auf und erhob sich mühsam von seinem Stuhl. Der schwergewichtige Mann trank im Stehen den letzten Schluck Kaffee. In seiner dicken Winterjacke wirkte er wie eine Tonne. Er ging ins Nebenzimmer, nickte jemandem zu und ging wieder hinaus, um im Flur zu warten. Der Mitarbeiter kam herausgeeilt.
„Wohin?“ fragte Kommissar Hettenbach. „Mitten rein ins frohe Menschenleben“, sagte Rose. „Zum Krummen Timpen.“
„Wie, wollen wir einen trinken?“
„Aber, Hettenbach, doch nicht im Dienst“, schmunzelte Rose. „Krummer Timpen ist der Name der Straße. Eine Tote ist dort in ihrer Wohnung gefunden worden.“
Ein Polizist in Uniform fuhr die beiden im Streifenwagen zum Tatort. Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie vor dem betreffenden Haus hielten. Der Polizist wurde angewiesen, in einer Stunde wiederzukommen. Rose und Hettenbach gingen zum Eingang.
„Die Tote heißt Ingrid Knörr“, murmelte Rose nachdenklich. Er suchte die Namensschilder ab und drückte auf den obersten Klingelknopf. Einige Sekunden später ertönte der Summer des Türöffners. Rose lehnte sich gegen die Tür, die unter seinem Druck nachgab. Die beiden Männer gingen die Treppe hoch bis in den dritten Stock. Die Wohnungstür stand offen. Drinnen herrschte ruhiges aber geschäftiges Treiben. In einem Raum, der wie ein Wohnzimmer eingerichtet war, lag eine Leiche.
„Guten Morgen, die Herren“, sagte Hauptkommissar Rose. Die Männer der Spurensicherung murmelten ein „Guten Morgen, HKB“, und beschäftigten sich weiter. Rose und Hettenbach sahen sich die Tote an. Sie lehnte halb sitzend gegen einen Schreibtisch zwischen dessen Rückseite und einer Wand in der sich einen Meter über dem Boden ein Fenster befand. Sie konnten keine Verletzungen an der Toten erkennen. Rose schob mit seiner rechten Hand die blonden, langen Locken zur Seite, um das Gesicht sehen zu können.
„Noch sehr jung“, konstatierte er. „Was habt ihr bis jetzt?“ wandte sich der Hauptkommissar an einen uniformierten Beamten. Der nahm einen Notizblock und las vor: „Gefunden wurde die Tote von ihrem Freund, Norbert Schorn. Sie heißt Ingrid Knörr, ist fünfundzwanzig Jahre alt, studiert Jura. Schorn konnte sich Zutritt zur Wohnung verschaffen, weil er einen Schlüssel besitzt.“
„Kann ich die Leiche jetzt untersuchen?“ unterbrach Dr. Glasstetter, der Gerichtsmediziner. Rose nickte. Er wandte sich wieder dem Beamten zu.
„Das war es schon“, sagte dieser. „Herr Schorn sitzt übrigens in der Küche.“
„Danke“, murmelte Rose. Er und sein Mitarbeiter gingen zur Küche. Ein junger Mann saß zusammengesunken auf einem Stuhl. „Guten Tag, ich bin Hauptkommissar Rose, mein Kollege Kommissar Hettenbach.“
„Guten Tag“, sagte der junge Mann, „ich bin Norbert Schorn. Frau Knörr ist meine Freundin.“ „Ja, wir wissen Bescheid“, sagte Rose. Schorn saß da wie ein Häufchen Elend.
„Sie waren mit der Toten befreundet“, stellte Rosefest. „Eine enge Beziehung, nehme ich an, da Sie einen Schlüssel für die Wohnung besitzen.“
„Ja“, sagte Schorn und den Rest hauchte er fast, „wir wollten nach dem Studium heiraten.“ Er preßte die Finger auf seine Augen. Rose registrierte, daß sich der junge Mann offensichtlich bemühte, seine Tränen zurückzuhalten.
„Was wollten Sie heute morgen hier?“ fragte Kommissar Hettenbach in ruhigem Ton.
„Ich war mit Ingrid verabredet. Wir wollten zusammen frühstücken und dann zur Uni gehen.“
„Was studieren Sie?“ fragte Hettenbach weiter.
„Jura.“
„Wie Ihre Freundin“, bemerkte Rose.
„Ja.“
„Sie haben also die Wohnung aufgeschlossen und da fanden Sie Ingrid Knörr?“
„Nein, zuerst habe ich geklingelt. Ingrid mochte es nicht, wenn ich einfach so in ihre Wohnung kam. Aber sie hat nicht aufgemacht. Ich dachte, sie schläft noch. Deshalb habe ich aufgeschlossen.“
Norbert Schorn atmete tief durch. „Und dann habe ich sie gefunden.“ Er stützte seinen Kopf mit den Händen. Die Polizeibeamten haßten diese Situation, in der die Angehörigen trauerten, sie aber trotzdem Ihre Fragen stellen mußten.
„Haben Sie die Tote angerührt?“ fragte Kommissar Hettenbach vorsichtig.
„Ja, das habe ich dem einen Beamten schon gesagt. Aber sie lag fast so da wie vorher. Ich habe sie hochgenommen und geschüttelt. Als ich merkte, daß sie tot ist, habe ich die Notrufnummer angerufen.“ Norbert Schorn hielt sich eine Hand vor die Augen. Er konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte hemmungslos. Der Arzt kam in die Küche. Rose sah ihn an. „Und?“ fragte er. Dr. Glasstetter sprach leise: „Der Tod ist wahrscheinlich gestern Abend zwischen 20°° und 24°° Uhr eingetreten. Sie hat Schläge ins Gesicht erhalten, allerdings nicht sehr starke. An den Oberarmen sind Druckstellen, eine Platzwunde im Genick. Das kann von einem Schlag mit einem scharfkantigen Gegenstand herrühren oder von einem Schlag gegen den Schreibtisch. Es ist möglich, daß sie dagegen gestoßen ist bei einem Sturz. Die Todesursache ist wahrscheinlich Genickbruch. Näheres kann ich erst bestimmen, wenn ich sie in der Gerichtsmedizin habe.“
„Gut“, meinte Hauptkommissar Rose. Der Arzt sagte noch, daß er die Leiche jetzt mitnähme. Dann ging er. Rose wandte sich Herrn Schorn zu.
„Wissen Sie, was Frau Knörr gestern Abend gemacht hat?“ Er öffnete den Küchenschrank und betrachtete ein Kaffeeservice. Jedes Teil des Geschirrs hatte ein anderes Blumenmotiv.
„Sie wollte sich mit einem Kommilitonen treffen, wegen einer Hausarbeit, die bis Freitag fertig sein muß“, beantwortete Norbert Schorn die Frage.
„Hat sie sich mit ihm getroffen?“ Rose fiel auf, daß eine Tasse fehlte.
„Weiß ich nicht, ich nehme es aber an.“
Der Hauptkommissar überlegte, welche Blume in der Sammlung fehlen könnte. „Wissen Sie, wie dieser Kommilitone heißt?“
„Nein. Ich stehe kurz vor dem zweiten Staatsexamen. Ingrid war erst im fünften Semester. Ich habe mit ihren Leuten nichts zu tun.“
„Was haben Sie gestern Abend gemacht, Herr Schorn?“ fragte Hauptkommissar Rose. Er schloß den Schrank und drehte sich herum.
„Ich habe Billard gespielt mit einem Freund.“
„Dann geben Sie meinem Kollegen Namen und Adresse Ihres Freundes. Wir müssen das überprüfen. Sie verstehen. Reine Routine.“
„Ja“, sagte Schorn. Kommissar Hettenbach setzte sich an den Küchentisch mit gezücktem Notizbuch und Kugelschreiber.
Rose ging in das Wohnzimmer. Er sah sich die Linie an, die man mit Kreide um die Tote herumgezogen hatte. Eine weiße Linie, die eine sitzende, an den Schreibtisch gelehnte Person zeigte. Zwei Beamte von der Spurensicherung packten gerade die Reste ihres Arbeitsgerätes ein.
„Was gefunden?“ fragte Rose Achim Schneider, den Rose seit mehr als zehn Jahren kannte.
Schneider sagte: „Viele Fingerabdrücke, verschiedene. Wir haben zwei Gläser mit Rotweinresten. Läßt wohl darauf schließen, daß die Tote Besuch hatte. Alles ist ziemlich ordentlich. Nichts deutet auf einen Kampf hin. Es ist fraglich, ob überhaupt einer stattgefunden hat. Raubmord keine Ahnung. Es sind keine Schubladen durchwühlt und keine Schränke. Nur die übliche Unordnung einer bewohnten Wohnung.“
„Danke“, murmelte Hauptkommissar Rose und ärgerte sich innerlich über die Bemerkung des Beamten bezüglich des Raubmordes. Zu schnell wurden Rückschlüsse gezogen, wenn auch nur irgendeine Schublade in ungewöhnlich auffälliger Unordnung vorhanden war. Er ging in die Küche.
„Wir können gehen“, sagte er.
Kommissar Hettenbach stand auf und sagte an Norbert Schorn gerichtet: „Sie müssen die Wohnung jetzt verlassen. Ihren Schlüssel geben Sie bitte ab. Solange die Ermittlungen laufen, dürfen Sie die Wohnung nicht betreten.“ Schorn reichte Hettenbach den Schlüssel. Die drei verließen zusammen die Wohnung. Der Kommissar schloß hinter ihnen ab. Norbert Schorn verabschiedete sich und verließ das Haus.
Rose und Hettenbach klingelten an der Wohnungstür im zweiten Stock. Niemand öffnete. Eine Etage tiefer im ersten Stock klingelten sie ebenfalls. Nach einer Minute öffnete ihnen eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm.
„Ja, bitte?“ fragte sie.
„Guten Tag. Wir sind von der Kriminalpolizei. Hauptkommissar Rose, Kommissar Hettenbach.“
„Ja, was ist denn da oben passiert?“ fragte die Frau neugierig.
„Dürfen wir reinkommen?“ Rose steckte seinen Ausweis wieder ein. Die Frau ließ die beiden in die Wohnung. Sie führte sie in eine Küche, in der sich schmutziges Geschirr stapelte.
„Sie kennen Ingrid Knörr?“ fragte Hettenbach.
„Ja, das Mädchen aus dem dritten Stock.“
Hettenbach räusperte sich und sagte dann: „Sie wurde letzte Nacht wahrscheinlich ermordet.“ „Was? Ach, du großer Gott!“ Die junge Frau war bestürzt.
„Haben Sie vielleicht irgend etwas Ungewöhnliches gestern Abend bemerkt?“
„Ich wüßte nicht, was.“
„Es geht um die Zeit zwischen 20°° und 24°° Uhr“, erklärte Rose. „Waren Sie da zu Hause?“ „Ja, abends bin ich immer daheim, wegen ihr.“ Sie wies auf das Baby. Rose und Hettenbach blickten das Baby an. Sein Gesicht verzog sich, es begann zu weinen.
„Sie fremdelt gerade“, erklärte die Frau und drückte dem Baby einen knallenden Knutscher auf die Wange.
„Wissen Sie, ob Ingrid Knörr Besuch hatte?“
„Nein, das kann ich nicht sagen. Ich war um halb elf noch wach, weil die Kleine Hunger hatte, aber ich habe nichts gehört.“
„Auch nichts im Treppenhaus?“ fragte Hettenbach. „Vielleicht, daß jemand hinauf oder hinunter gegangen ist?“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Es tut mir leid.“
„War noch jemand hier außer Ihnen und dem Baby?“
„Ja, mein Mann.“
„Vielleicht hat er etwas gehört.“
„Mein Mann hat schon früh geschlafen. Er hat Frühdienst heute, da geht er immer schon um neun ins Bett.“
„Gut, wir bedanken uns bei Ihnen. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie bitte diese Nummer an.“ Rose reichte der Frau eine kleine Visitenkarte mit der Adresse des Kommissariats. „Auf Wiedersehen.“
Die Beamten traten ins Treppenhaus. Rose drehte sich noch einmal um und fragte: „Ach, die Mieter aus dem zweiten Stock sind nicht da. Wissen Sie, wann die heute zurück kommen?“
„Da wohnen die Katizcs. Die sind nach Jugoslawien für einige Wochen.“
„Ach so“, sagte Rose, „auf Wiedersehen.“ Er und Hettenbach gingen die Treppe hinunter und klingelten im Erdgeschoß. Es öffnete niemand. Sie verließen das Haus.
„Schauen wir uns mal das Haus von hinten an“, sagte Rose. Die beiden gingen durch eine Unterführung im Haus hindurch und kamen in einen Hinterhof.
„Da gibt es ja ein Hinterhaus“, fiel Hettenbach auf. „Vielleicht hat von denen jemand etwas gesehen.“
„Möglich“, erwiderte Rose. „Kommen Sie, mal sehen, ob wir jemanden finden, der nachts seine Nachbarn beobachtet.“
Sie gingen durch die Unterführung zurück zur Straße.
„Rechts oder links?“ fragte Rose. Der Polizist, der die beiden hergefahren hatte, öffnete die Wagentür, als er sie sah.
„Gehen Sie Mittagessen“, sagte Hettenbach zu ihm, „es dauert noch. Seien Sie in einer Stunde wieder hier.“
„Und was, wenn wir nur zehn Minuten brauchen?“ fragte Rose. „Ich bin eben Optimist“, antwortete Hettenbach. Und dann: „Also, ich denke, wir gehen links.“
Sie liefen den Bürgersteig entlang. Er führte in einer leichten Kurve um den Häuserblock herum zur Hauptstraße. Die vorbeirauschenden Autos übertönten beinahe seine Worte, als Rose sagte: „Das könnte das Hinterhaus sein.“
Hettenbach klingelte bei der Erdgeschoßwohnung. Erna Veckenstadt stand auf dem Namensschild. Die Haustür ging auf. Einige Stufen aufwärts stand eine alte, weißhaarige Frau in der Wohnungstür. Der Hauptkommissar erklärte kurz, wer sie waren. „Ist dies das Haus gegenüber dem Haus Krummer Timpen Nr. 25?“
„Ach, das weiß ich nicht, welche Nummer das Hinterhaus hat“, erwiderte die alte Frau.
„Könnten wir vielleicht einmal nachsehen?“ fragte Rose. Frau Veckenstadt reagierte wie alle alten Damen auf Roses liebenswürdigen Charme. Sie ließ die beiden herein und führte sie durch einen geräumigen Flur in ein noch geräumigeres Wohnzimmer.
„Schauen Sie, das ist das Hinterhaus“, sagte sie. Rose und Hettenbach sahen aus dem Fenster. „Ja, das ist das Haus“, stellte Rose fest. Und zu Hettenbach: „Gehen Sie zu den anderen Mietern, fangen Sie ganz oben an, und sehen Sie zu, daß Sie etwas erfahren. Wir treffen uns dann in der Mitte.“
„In Ordnung“, sagte der Kommissar und verließ die Wohnung. Rose war sofort aufgefallen, daß die alte Dame vom Hinterhaus gesprochen hatte. Wenn er es genau bedachte, fragte er sich, welches der Häuser nun das Vorderhaus und welches das Hinterhaus war. Er betrachtete das Haus, in dem man die Tote gefunden hatte und beschloß für sich, daß es das Vorderhaus bleiben sollte, auch wenn es eigentlich nicht an der Hauptstraße lag. Er wandte sich der alten Dame zu, die ihn erwartungsvoll ansah.
„Frau Veckenstadt, wir ermitteln in einem Mordfall im Haus gegenüber. Da Sie von hier aus das Haus einsehen können, wäre es möglich, daß Sie etwas beobachtet haben, das für uns wichtig ist.“
„Aber nein, wenn ich einen Mord gesehen hätte, hätte ich doch gleich die Polizei gerufen.“
„Ja, natürlich, davon gehe ich aus.“ Rose sprach sanft und freundlich. „Ich meinte das auch nicht so, Frau Veckenstadt. Aber vielleicht haben Sie etwas anderes gesehen. Zum Beispiel Licht, oder die Mieter im Haus. Waren Sie denn gestern abend zwischen 20°° und 24°° Uhr noch wach?“ „Oh, ja, ich gehe immer sehr spät schlafen. Wissen Sie, ich kann abends nicht einschlafen. Das liegt am Alter.“
„Haben Sie mal aus dem Fenster gesehen, gestern abend?“
„Ja, ja, ich sehe oft aus dem Fenster.“
„Haben Sie Licht im Nachbarhaus gesehen?“
„Moment“, Frau Veckenstadt ging zur Balkontür. Sie sah sich das Haus gegenüber an. „Ja, da war Licht. Ganz oben brannte Licht. Darunter war es dunkel. Im ersten Stock brannte wieder Licht; da hat das Baby den ganzen Abend geweint. Das bekommt sicher den ersten Zahn.“
„War im Erdgeschoß auch jemand da?“
„Ja, im Erdgeschoß war Licht.“
„Haben Sie im dritten Stock jemanden am Fenster gesehen?“
„Nein, das tut mir leid. Ich habe nur die junge Frau im Erdgeschoß gesehen. Sie ist Fotografin. Sie saß in ihrer Küche. Sehen Sie“, Erna Veckenstadt wies auf das Küchenfenster gegenüber, „sie saß den ganzen Abend am Tisch und las und schrieb.“
„War sie alleine?“
„Ich glaube ja. Ist mit ihr etwas passiert?“
„Nein, um sie geht es nicht. Eine Studentin im dritten Stock wurde getötet.“
„Ach, Gott, und jetzt suchen Sie den Mörder?“
„Oder die Mörderin“, erwiderte Hauptkommissar Rose.
„Das hier so etwas passiert.“ Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Wollen Sie nicht einen Kaffee trinken?“ fragte sie freundlich. Rose wehrte ab: „Das ist sehr liebenswürdig, aber ich habe noch sehr viel Arbeit, Frau Veckenstadt. Sollte Ihnen noch etwas Wichtiges einfallen, können Sie mich jederzeit im Kommissariat anrufen.“ Er gab der alten Frau das übliche Kärtchen mit seiner Büronummer. „Vielen Dank für Ihre Auskunft.“
„Ach, bitte. Hoffentlich konnte ich Ihnen von Nutzen sein.“
„Sicher, auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen, Herr Inspektor.“ Rose lächelte. Er wunderte sich immer wieder darüber, daß alle Damen über siebzig Inspektor zu ihm sagten. Hinter ihm schloß sich die Tür.
Die beiden Beamten wären fast zusammengestoßen, als der eine die Treppe hinauf eilte und der andere gerade hinunter. „Und?“ fragte Rose erwartungsvoll.
„Nichts“, erwiderte Hettenbach. „Die Hälfte ist nicht da. Die andere Hälfte war gestern abend nicht da.“
„Na ja, bei mir war auch nicht viel. Aber wir müssen nachher noch mal drüben im Erdgeschoß klingeln. Die Frau, die dort wohnt, war nach Frau Veckenstadts Aussage gestern abend zu Hause.“ Die Beamten gingen zurück zum Krummen Timpen. Der Polizist, der sie abholen sollte, war noch nicht da.
„Also, ich denke, wir fahren gleich zurück ins Präsidium“, sagte Rose. „Ich werde mich darum kümmern, herauszubekommen, wer besagter Kommilitone ist, der gestern bei der Toten war. Und Sie werden herauskriegen, in welchen Kreisen unsere junge Dame verkehrt hat.“ Hettenbach betrachtete seinen Chef prüfend von der Seite. „Wer sagt es den Eltern?“ fragte er vorsichtig.
„Nicht wir“, erwiderte Rose. „Das soll unser Nesthäkchen machen.“
Hettenbach atmete erleichtert auf. „Ja, das kann er inzwischen ganz gut. Wo ist er eigentlich heute morgen?“
„Hat einen Termin beim Zahnarzt“, brummte Rose.
„Was will der denn beim Zahnarzt mit den Zähnen?“ fragte Hettenbach verblüfft. „Damit kann er doch Werbung für Zahnpasta machen.“ Hettenbach sah Dominique Goutier vor sich, wie er am ersten Tag vor zwei Jahren im Büro auftauchte. Jung, beinahe noch grün hinter den Ohren; mit seinem strahlenden, weißen Lachen nahm er sie alle sofort gefangen. Nichts als riesige, blitzende Zähne hatte man gesehen. Ein Auto hielt am Bordstein.
„Guten Morgen, zusammen. Man hat mir gesagt, daß ich hier zwei verloren Kripobeamte auflesen soll.“
„Wenn man vom Teufel sprich“, konstatierte Hettenbach. Sie stiegen ins Auto.
„Wohin?“ fragte der junge Mann und zeigte den beiden sein strahlend weißes Gebiß.
„Mich setzen Sie im Präsidium ab. Und für Sie habe ich auch schon etwas.“ Rose erläuterte Dominique Goutier kurz den Sachverhalt. „Sie werden den Eltern die Nachricht überbringen, wenn sie es nicht sowieso schon von Herrn Schorn erfahren haben.“
„Oh, nein“, stöhnte Goutier, „immer ich.“
„Du kannst das so gut“, sagte Hettenbach schmunzelnd.
„Außerdem brauchen Sie Routine darin“, erklärte Rose. „Sie können dann auch gleich die üblichen Fragen stellen. Ob die Eltern noch mal mit ihr gestern abend telefoniert haben, und so weiter.“
„Ja, ja, mit den Kleinen kann man es ja machen“, nuschelte Goutier.
„Hettenbach wird Sie begleiten, nicht wahr, Hetti?“ Rose drehte sich um und grinste den Kommissar an.
„Aber HKB, Sie haben gesagt...“
„Ich habe nur gesagt, daß Goutier die Nachricht überbringt und Sie sich nach dem Freundeskreis erkundigen sollen. Wo fängt man normalerweise damit an?“
„Bei den Eltern“, sagten Goutier und Hettenbach im Chor.
„Na, also“, konstatierte Böse, „es geht doch. Wie war es beim Zahnarzt?“ fragte er den jungen Kollegen. Der zeigte nur sein strahlend weißes Gebiß und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Im Büro setzte Hauptkommissar Rose sich an seinen Schreibtisch. Neben ihm lag sein Brot, das er sich täglich mit ins Büro nahm, er trank Kaffee. Es war bereits 15°° Uhr vorbei. In der Zwischenzeit hatte er einige Dinge erledigt. Er hatte mit der Universität telefoniert, um die Namen der lehrtätigen Juristen zu erfahren. Es gab insgesamt sieben. Die hatte er dann der Reihe nach versucht zu erreichen, um den Namen des Kommilitonen der Ingrid Knörr herauszubekommen. Zwei Dozenten hatten sich in Vorlesungen aufgehalten. Einer war zu Hause gewesen, aber nicht der Richtige. Zwei befanden sich in der Mensa beim Mittagessen. Beim siebenten hatte Rose endlich Glück gehabt. Er war Zuhause, und er war der Gesuchte. Das alles dauerte ungefähr eine Stunde. Hauptkommissar Roses Brot war bereits leicht angetrocknet, als er zum dritten Mal daran abbiß. Die betreffende Person kannte Ingrid Knörr, da sie schon einmal eine Hausarbeit bei ihm angefertigt hatte. Rose erfuhr, daß Hausarbeiten nicht zusammen geschrieben wurden. Es war in der Regel so, daß viele Studenten sich gegenseitig halfen bei dem einen oder anderen Problem. Der Dozent wußte nicht, mit wem sich Ingrid Knörr verabredet haben konnte. Rose schrieb sich die Namen der Kommilitonen auf, die dieses Thema der Hausarbeit bearbeiten mußten. Es waren elf. Hauptkommissar Rose telefonierte mindestens eine weitere Stunde lang, bis er schließlich den Studenten erwischte, der der Fragliche war. Nachdem er diesem mitgeteilt hatte, worum es ging, und daß er gerne mit ihm sprechen wolle, erhielt Rose nur ein betretenes Schweigen als Antwort. Der junge Mann sagte erst nach einer ganzen Weile, er sei Zuhause und würde nicht mehr weggehen. Rose legte erschöpft den Hörer auf. Er rieb sich sein linkes Ohr, das so rot leuchtete wie eine Tomate. Kommissar Hettenbach kam herein. „HKB, ich habe hier den Bericht vom Labor“, sagte er. „Interessant und wahnsinnig informativ. In den Gläsern befanden sich Reste von Rotwein. Das hätte ich auch ohne Labor herausgefunden. Auf einem Glas ist ein halber, noch nicht identifizierter Fingerabdruck. Die restlichen darauf waren verwischt. Auf dem anderen Glas befinden sich die Abdrücke der Toten. Unter ihren Fingernägeln waren Fasern von Wolle, die von ihrem eigenen Pullover stammen, den sie zur Tatzeit trug. Das ist alles.“ Hettenbach setzte sich. „Ihr Ohr ist ganz rot“, bemerkte er.
„Ach“, brummte Rose. „Was sagt die Gerichtsmedizin?“ Er rieb sich immer noch das Ohr. Es war ganz heiß.
„Da gibt es auch nicht viel“, setzte Hettenbach fort. „Der Tod trat ein um circa 22.30 Uhr. Todesursache Genickbruch, vermutlich ist sie gegen den Schreibtisch gestoßen. Sie hat im Nacken eine fünf Zentimeter lange Platzwunde; auf der Schreibtischkante klebten Blut und Hautreste. Leichte Blutergüsse an den Oberarmen durch zu festen Druck von Händen. Sie hat einen Schlag ins Gesicht erhalten, der auf ihrer linken Wange einen kaum sichtbaren Abdruck hinterlassen hat. Ansonsten gibt es keine Anzeichen für stärkere Gewalt. Das wär's. Und hier sind die Fotos.“ Hettenbach reichte Rose eine Akte. „Sind auch nicht sehr aufschlußreich.“
Der Hauptkommissar betrachtete die Fotos aufmerksam und sagte dann: „Vielleicht ist sie gar nicht umgebracht worden.“ Er rieb sich wieder sein Ohr. „Aber, wie ist sie dann gestorben? Ein blöder Unfall, oder was?“ Er legte die Akte sorgfältig auf den Schreibtisch. „Was habt ihr bei den Eltern erfahren?“
„Sie waren sehr bestürzt, als Dominique Ihnen die Nachricht mitteilte. Er hat das mal wieder fabelhaft gemacht. Da hat er die schönsten Zähne der Welt in seinem Mund, aber wenn es um so etwas geht, klappern sie, als würden sie jeden Moment herausfallen. Also, es ist eine ganz durchschnittliche Familie mit mittlerem Einkommen. Gutes Verhältnis zur Tochter, regelmäßiger Kontakt, aber nicht gestern abend. Wir haben einige Adressen von Freunden. Dominique klappert sie gerade ab.“
„Schön“, sagte Rose. „Schreiben wir erst mal unsere eigenen Berichte.“ Mißmutig betrachtete er sein Brot, dessen Ränder sich mittlerweile nach oben bogen. "Gehen wir zusammen in die Kantine, Hetti?"

Fortsetzung folgt...